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Emilia – die Neue
 
Schon beim Frühstück war Emilia nervös. Was, wenn Papa wieder nichts für mich hatte, dachte sie. Prüfend blickte sie kurz zu ihm, dann nahm sie all ihren Mut zusammen.

»Papa, hast du das Geld heute?«, fragte Emilia und trank einen Schluck von ihrem Kakao.

Emilias Klassenlehrerin plante für den nächsten Wandertag in der Schule einen Ausflug in einen Freizeitpark. Die achtzig Euro sollten für die Busfahrt und den Eintritt in den Park sein. Bisher war Emilia noch nie in einem Vergnügungspark gewesen. Rebecca, Emilias neue Freundin, hatte ihr einen Flyer gezeigt und sie neugierig gemacht. Die beiden waren wie sämtliche ihrer Klassenkameraden zwölf Jahre alt und besuchten die sechste Klasse der Gesamtschule in Vellmar.

 »Schatz, du weißt doch, dass es im Moment nicht geht«, versuchte ihre Mutter, die Lage zu retten.

Traurig blickte Emilia zu ihrer Mutter, als diese liebevoll über die Hand ihrer Tochter strich. Die drei waren erst vor einigen Monaten von Russland nach Vellmar gezogen. Vellmar war zwar eine kleine Stadt im Landkreis Kassels, aber für Emilia das kleinste Kaff der Welt, doch ihr Vater hatte hier am Staatstheater einen neuen Job bekommen und ihre Mutter am Rathausplatz einen kleinen Laden mit russischen Spezialitäten eröffnet. Emilias Vater war in Deutschland geboren. Seine Eltern waren mit ihm nach Russland gezogen, als er gerade einmal in Emilias Alter gewesen war. Für ihn war es damals nicht einfach, sich an ein neues Leben in einem fremden Land zu gewöhnen. Dass er nun zurück in seiner Heimat war, freute ihn sehr. Alena – seine Frau – hatte er die deutsche Sprache beigebracht, als sie sich kennenlernten. So wuchs Emilia zweisprachig auf.

 »Alena, lass gut sein. Emilia, ich bringe dir die achtzig Euro heute Nachmittag mit. Du brauchst das Geld ja erst morgen«, sagte Emilias Vater und blickte seine Frau liebevoll an.

Geld war in der Familie wegen des Umzugs noch knapp, aber Hilfe von der Schule wollten sie nicht annehmen.

 »Danke, Papa«, flüsterte Emilia schüchtern und senkte den Kopf.

Verlegen schaute sie auf ihre Schale mit Cornflakes. Schweigend löffelte sie sie leer. Als sie plötzlich auf die Uhr blickte, zuckte sie zusammen und sprang hastig auf.

 »Was ist los?«, fragte Emilias Mutter erschrocken.

 »Ich muss los, wir schreiben heute in der ersten Stunde eine Mathearbeit, da wäre ich lieber etwas früher da, um mit Rebecca noch mal alles durchzugehen.«

Zügig packte Emilia ihre Schulsachen zusammen, während ihre Mutter sie skeptisch dabei beobachtete. Sie nahm ihrer Tochter die Eile nicht ab. Sonst war Emilia nicht so hektisch vor einer Arbeit. Fragend schaute Alena ihren Mann an, doch Dimitri zuckte nur mit den Schultern, ehe er seinen Blick wieder in die Zeitung senkte, die er morgendlich immer zum Frühstück las. Emilia überschlug sich fast beim Hinunterrennen in den Keller. Schnell griff sie nach ihrem Fahrrad, schob es nach draußen und strampelte, was das Zeug hielt. Sie musste es einfach schaffen. Sie durfte diesem Mistkerl nicht schon wieder in die Finger geraten. Ihr Herz raste und pochte wie wild, als sie den steilen Hügel am Friedhof hinunterfuhr. Eigentlich sollte sie nicht über das Feld mit dem abschüssigen Hang fahren, sondern den offiziellen Fahrradweg entlang der Straße nutzen. Doch so war Emilia schneller und ihre Eltern mussten davon ja nichts erfahren. Es war Ende August und der Tag begrüßte sie mit strahlender Sonne und blauem Himmel – so weit Emilias Augen reichten. Dennoch wehte ein sanfter Sommerwind, der auf Emilias Armen eine leichte Gänsehaut auslöste und sie erschauern ließ. Die Vögel zwitscherten friedlich vor sich hin, was so gar nicht zu ihrer inneren Unruhe passen wollte. Emilia trug an diesem Morgen eine kurze Hose und ihr Lieblingsshirt. Es war ein weinrotes TShirt mit Pailletten in Sternform drauf. Emilia war ein sportliches Mädchen. Ihre langen blonden Haare band sie meistens zum Zopf zusammen. An ihrem linken Unterarm stach eine Brandwunde hervor, die sie sich vor zwei Jahren zugezogen hatte. Als sie den Friedhof und den Hang hinter sich gelassen hatte, raste sie durch einen Tunnel hindurch. Über diesem fuhren regelmäßig Züge sowie die RegioTram. Emilias Weg führte sie am Einkaufsmarkt vorbei und dann über die Hauptstraße. An diesem Morgen war zum Glück nicht viel los, sodass sie schnell vorankam. Emilia war etwas früher dran als sonst. Als sie nach wenigen Minuten in den Ahnepark fahren wollte, verlangsamte sie ihr Tempo. Ängstlich blickte sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Da seit einigen Wochen am Eingang des Parks gebaut wurde, musste sie die Umleitung durch die Unterführung fahren. Sie führte unter der Schnellstraße hindurch, über die die Autos bereits am frühen Morgen rollten. Die Ahne lief hier sehr schmal durch und nur bei starkem Regen trat der kleine Fluss über. Auch der Fußgänger- beziehungsweise Radweg entlang der Unterführung war hier nur sehr schmal und Emilia sollte besser absteigen und das Rad schieben, aber die Angst kroch in ihr hoch. Sie wollte schnell und ohne Probleme an der Schule ankommen – ohne wieder abgefangen zu werden. Emilia bremste etwas ab, bevor sie in den Tunnel hineinfuhr, und ließ misstrauisch ihren Blick schweifen, um sich wirklich sicher zu sein, dass ihr keiner gefolgt war, dann strampelte sie weiter. Links von ihr befand sich die Brückenwand und rechts ein Geländer, das sie von der Ahne trennte. An diesem Morgen plätscherte das Flüsschen friedlich vor sich hin. Auf der anderen Seite hatten Sprayer die zweite Wand mit hässlichen Graffiti besprüht. Das Durchqueren der Unterführung war zudem weniger eine Umleitung als eher eine Art Abkürzung, wie Emilia jetzt feststellte, sodass sie schneller die Schule erreichen konnte. Müsste sie durch den ganzen Park fahren, würde sie das einiges mehr an Zeit kosten. Sie atmete tief durch, als ihr plötzlich jemand den Weg versperrte. Es war Mirko! Verdammt, dachte sie. Dann konnte Sascha nicht weit sein. Am liebsten hätte sie voll in die Pedale getreten, um Mirko umzufahren, doch sie bremste abrupt ab.